Diskurs von Identitäten
Die Universität Würzburg hat zusammen mit ihrem Kooperationspartner ‚Deutsch-Russisches Forum‘ das DAAD-Alumni-Forum ‚Russland und Deutschland: Diskurs von Identitäten – Variationen und Transformationen' durchgeführt. Im Rahmen dieses Forums waren russische Alumni deutscher Hochschulen, die alle einen Auslandsaufenthalt in Deutschland absolviert haben, eingeladen, sich intensiv mit dem Begriff und dessen Bedeutung im Privat- und Berufsleben auseinanderzusetzen. Mit einer Auswahl an Antworten der Alumni zu Fragen zum Begriff Identität soll ein Einblick in den Diskurs gegeben werden. Weil deutsch die drittwichtigste Sprache in Russland ist und für viele Alumni vor dem Englischen steht, sind die Antworten der Alumni zu Fragen zur Identität in deutscher Sprache erfolgt. Die Alumni sind in der Vielzahl als SprachübersetzerInnen und Sprach-DozentInnen an diversen Hochschulen in der Russischen Förderation und der Ukraine tätig und übernehmen somit eine Art Schlüssel- oder Transferrolle im interkulturellen Austausch.
Was versteckt sich hinter dem Begriff Identität? Aus welchen Komponenten setzt sich die eigene Identität zusammen? Bildet sie eine Konstante im Leben oder ändert sie sich in unterschiedlichen Lebensphasen oder neuen Erfahrungen wie z. B. durch einen Aufenthalt im Ausland? Hat der Begriff in unterschiedlichen Kulturkreisen unterschiedliche Bedeutungen? Diesen und weiteren Fragen sind russische Alumni deutscher Hochschulen nachgegangen. Sie haben unterschiedliche Aspekte des Begriffs Identität besprochen, z. B. im Kontext Sportereignisse, Museumswesen, Wirtschaftskooperation, akademische Mobilität, Geschichte, Literatur sowie Migration. Nachdem alle Alumni durch ihren Auslandsaufenthalt in Deutschland mindestens einen intensiven Einblick in die deutsche Kultur und Aspekte einer ‚deutschen Identität‘ erhalten haben, sind sie auch um Vorschläge hinsichtlich eines besseren gegenseitigen Verständnisses der beiden Kulturen gebeten worden.
Inwiefern hat Ihr Deutschlandaufenthalt Ihre Identität erweitert/verändert?
Mein Aufenthalt in Deutschland hat mich stark geprägt und meine Horizonte erweitert. In Deutschland bin ich nicht nur Deutschen begegnet, sondern auch Menschen aus anderen Ländern und Kulturen, da Deutschland ein interkulturelles Land ist. Dadurch habe ich gelernt, Diversität nicht als Gefahr bzw. nicht als Gefährdung der eigenen Identität anzusehen, sondern als Chance, die eigene Identität zu erweitern. In diesem Sinne könnte man das bekannte Sprichwort „Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch“ etwas umformulieren: Je mehr Kulturen man kennt, desto mehr ist man Mensch.
Dr. Polina Astashkina
Dozentin an der Staatlichen Universität Nowgorod, Lehrstuhl für Fremdsprachen, Übersetzung und interkulturelle Kommunikation
Mein Deutschlandaufenthalt ermöglichte es mir in erster Linie, mir meiner eigenen Identität bewusst zu werden, weil es meine erste Begegnung mit einer anderen/fremden Kultur, Lebensweise, anderen Lebenswerten war. Manches führte zur Abgrenzung, anderes bewegte mich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit in meinem Umfeld üblichen Werten. Intensiver Austausch mit Deutschen förderte meine Bereitschaft, innere Grenzen abzubauen und etwas Fremdes als möglich anzuerkennen.
Julia Kartaschowa
Direktorin Regionalzentrum der deutschen Kultur "Hoffnung", Sprachlernzentrum Partner des Goethe-Instituts, Prüferin und Kursleiterin
Der Aufenthalt in Deutschland hat meine Identität positiv beeinflusst. Ich glaube, die Annäherung an die Deutschen und der Austausch kultureller Werte haben zu einem besseren Verständnis von mir selbst beigetragen und mein gutes Verhältnis zu den Deutschen gestärkt.
Erzhena Nimaeva
Aspirantin, Burjatische Staatliche Universität, Institut für Philologie, Fremdsprachen und Massenkommunikation
Mein Deutschlandaufenthalt hat meine Identität eindeutig erweitert und beeinflusst. Ich habe eine Schule mit vertieftem Deutschunterricht besucht und in der Zeit vor der Coronavirus-Epidemie hatten wir einen Schulaustausch. Ich bin mirsicher, je länger ein Mensch mit einer früheren Identität gelebt hat, desto schwieriger ist es, eine neue zu akzeptieren. Zum Beispiel schaffen es EinwandererInnen selten, Bürger des Gaststaates zu werden, ohne psychische Beschwerden zu haben.
Sofia Reschetowa
Studentin an der Universität der Völkerfreundschaft Moskau, Institut für Fremdsprachen
Im Ganzen hat die deutsche Kultur eine große Auswirkung auf mich und erweitert die Grenze meiner Person. Wenn ich in Deutschland bin, so fühle ich mich wie zu Hause. Natürlich geht es um Annährung zu den 'Deutschen'. Deutsche Toleranz wirkt sich auf mich aus. Besonders in Berlin hatte ich ein solches Gefühl, weil die Hauptstadt eine Stadt voller Kontraste ist. Und all diese so unterschiedlichen Menschen, die sie bevölkern, wohnen zusammen, erkennen einander ohne weitere Bedingungen an. Und das ist herrlich!
Dr. Maria Rusyaeva
Dozentin an der Allrussischen Staatlichen Justizuniversität, Mittel-Wolga Institut, Saransk
Natürlich hat mein Aufenthalt in Deutschland die Definition meiner Identität stark beeinflusst. Vor allem auch, weil mir diese Reisen neue Horizonte eröffnet haben, neue Begegnungen mit Menschen ganz anderer Identitäten, mit Studenten aus der ganzen Welt − all dies ermöglichte mir, meine Identität viel breiter zu betrachten. Während ich in Russland (oder auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion) lebte, konnte ich meine Nationalität nicht definieren – während meines Aufenthaltes in Deutschland spürte ich deutlich, dass ich aus Russland komme. Es war, als ob sich der Fisch plötzlich fragte, in was für einem Wasser er schwamm.
Anna Saprykina
Journalistin, Forschungsuniversität für Stahl und Legierungen Moskau
In allen Bereichen und Lebenslagen hat sich meine Persönlichkeit verändert, da in Deutschland viele Themen diskutiert werden, die in Russland nicht wichtig erscheinen. Vor allem meine Vorstellung von Zeit hat sich geändert, zur Beziehung zwischen Mann und Frau, zur hohen Wertschätzung der Bildung.
Maria Zavgorodneva
Leitung des Sprachzentrums "Dialog" in Perm
Mein Aufenthalt in Deutschland hat mich natürlich sehr verändert: Ich habe die Grenzen meines Denkens erweitert und neue Züge meiner persönlichen Identität entwickelt. Heute spüre ich nicht nur meine russische Identität, sondern auch eine globale Identität, die mich mit vielen verschiedenen Menschen und Kulturen auf der ganzen Welt verbindet. Mir scheint, diese beiden Identitäten widersprechen sich nicht, sondern im Gegenteil – sie ergänzen einander ansatzlos.
Natalia Vitol
Heinrich-Böll-Stiftung Russland, Projekt- und PR-Managerin
Meiner Meinung nach führt der kulturelle Austausch immer zur Annäherung an ein anderes Land und seine Bewohner. Sie tauschen etwas Neues aus und nehmen etwas Besseres von ‚den Anderen‘ in ihre Mentalität auf.
Anastasiia Shepeleva
Masterstudentin, Moskauer Higher School of Economics, Medienabteilung, Kritische Medienforschung
Was wären aus Ihrer Sicht Maßnahmen, die die Annährung und den Austausch zwischender russischen und der deutschen Kultur vorantreiben könnten?
Jugendaustausch, gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten deutscher und russischer Forscher, die Möglichkeit, in Russland (für die Deutschen) und in Deutschland (für die Russen) zu praktizieren oder zuarbeiten, wird das Vertrauen, die Freundschaft und damit die kulturelle Annäherung der Länder fördern.
Anastasiia Shepeleva
Masterstudentin, Moskauer Higher School of Economics, Medienabteilung, Kritische Medienforschung
Das ist schwer zu sagen. Meiner Meinung nach liegen unsere Kulturen näher beieinander, als wir denken. Um Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden, müssen wir versuchen, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir unterschiedlich sind, aber dies ist kein Grund, die Kommunikation einzustellen. Wir haben auch viel gemeinsam. Sowohl Russen als auch Deutsche sind zum Beispiel recht unkompliziert und nüchtern. Es ist notwendig, Stereotype in Bezug aufeinander aufzugeben, kein „Feindbild“ zu schaffen und natürlich gesellschaftliche Verbindungen zu knüpfen. Es ist für mich sehr schade, dass Deutsch als Fremdsprache die Schule verlässt. Das Sprachenlernen hilft beim Aufbau von Brücken zwischen Ländern.
Dr. Maria Rusyaeva
Dozentinan der Allrussischen Staatlichen Justizuniversität, Mittel-Wolga Institut, Saransk
Ich bin mir sicher, dass internationale Treffen die Menschen einander näherbringen. Ich glaube, dass partnerschaftliche Projekte wie z.B. gemeinsame Publikationen etc., die frei von politischen Ansichten sind, zur Annäherung des Eigenen an das Fremde führen.
Prof. Dr. Zoya Lominina
Staatliche Kubanuniversität zu Krasnodar, Lehrstuhl für deutsche Philologie
[…] Die Maßnahmen unserer weiteren Annäherung sollten meiner Meinung nach neben anderen Programmen folgendes umfassen: 1) regelmäßige, kostenlose thematische Online-Dialoge mit allen interessierten Teilnehmern, 2) freier Online-Zugang zu bereits digitalisierten Kunstwerken und Grafiken aus den Museumssammlungen beider Länder, 3) die Möglichkeit, die Meisterwerke des Weltkulturerbes zu betrachten und zu diskutieren.
Dr. Victor Nemchinov
Leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilung für vergleichende Kulturwissenschaften, Institut für Orientalistik, Russische Akademie der Wissenschaften
Aus meiner Sicht ist die Stärkung des praktischen kulturellen Austauschs zwischen unseren Ländern, vor allem im Bereich Jugend, sehr wichtig. Es ist notwendig, mehr kulturelle und pädagogische Veranstaltungen, Foren, Seminare usw. zu organisieren sowie die Kanäle des Bildungs- und des wissenschaftlichen Austauschs zu erweitern, damit jede Seite die Kultur auch praktisch erleben kann.
Kseniia Korchagina
Master-Absolventin der Fachrichtung Internationale Beziehungen, private Englischlehrerin
In erster Linie persönlicher Austausch – Reisen, Leben in der Umwelt, berufliche Kontakte und Austausch sowie politische Stabilität in den Beziehungen zwischen Regierungen. Wenn Fernsehprogramme Deutschland und den Westen in politischen Talkshows in einem negativen Licht propagieren und andersherum, leiden alle Bereiche der Zusammenarbeit!
Dr. Bella Gartwig
Geschichtslektorin Kulturhochschule Samara, Vorsitzende "Deutsche national-kulturelle Autonomie von Samara", Ratsmitglied Regionales Zentrum für deutsche Kultur "Hoffnung"
Ich bin überzeugt, dass viele Maßnahmen die Annährung und den Austausch zwischen der russischen und der deutschen Kultur vorantreiben könnten. Das wichtigste Argument dafür bezieht sich auf regelmäßige, intensive Sprachkurse in beiden Staaten. Außerdem könnte man Intensiv-Fortbildungen für russische Deutschlehrer anbieten, um neue pädagogische Konzepte kennenzulernen und vertiefende Kenntnisse über Land, Leute, Kultur und Zusammenarbeit zu erlangen.
Dr. Valentina Chechetka
Dozentin, Staatliche Technische Universität Woronesh, Fakultät für Bildungs- und Kulturangebote
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